Die Entstehung der großen
Zivilisationen hängt ab einem gewissen Zeitpunkt sehr von der Entwicklung der Schrift ab,
mit deren Hilfe eine Kommunikation über große räumliche und zeitliche Entfernungen
möglich ist und komplexe Gedanken und Sachverhalte aufgezeichnet werden können. Die
chinesische Schrift nimmt eine besondere Rolle bei den menschlichen Sprachen ein, da jedes
ihrer komplexen Zeichen eine Bedeutung trägt, anstatt zu versuchen, lautliche
Gegebenheiten zu übermitteln.
Nur so war es möglich, die erheblichen regionalen Unterschiede in der gesprochenen Sprache der verschiedenen Provinzen Chinas zu überwinden und ein gemeinsam verstandenes Kommunikationsmittel zu schaffen. Sogar andere ostasiatische Kulturen, wie Japan, Korea und Vietnam, deren Sprache sich grundlegend von der chinesischen unterscheidet, haben die chinesische Schrift übernommen und benutzen sie nach ihren Sprachgewohnheiten. Die Tatsache, daß phonetische Veränderungen in der Schrift nicht ausgedrückt werden, hat eine Kontinuität der Schrifttradition ermöglicht, wie sie in keiner anderen Kultur möglich war. Wenn auch der Stil nach Epoche und Art des Schriftstücks variiert, hat man dennoch kaum Schwierigkeiten, einen Text aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zu lesen. In Deutschland hat wegen dieser Eigenschaften der chinesischen Schrift der berühmte Universalgelehrte und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) für eine Übernahme der chinesischen Schrift als weltweite Wissenschaftssprache stark gemacht.
Zieht man die Komplexität dieser Schrift in Betracht - immerhin verzeichnet das erste Lexikon neueren Stils (Kangxi zidian, komp. 1716) rund 50.000 chinesische Schriftzeichen -, ist es nicht verwunderlich, daß bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts nur eine kleine Elite Zugang zu diesem Medium hatte. Die Prüfungen, denen sich ein angehender Beamter des chinesischen Reiches von frühester Zeit bis zum Ende des Kaiserreichs (1911) zu unterziehen hatte, waren ihrer Natur nach literarisch. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten in den frühen fünfziger Jahren wurden die Schriftzeichen formell vereinfacht und ein allgemeines Schulsystem eingeführt, das dem Volk zumindest die Grundregeln der Schrift beibringen soll, aber dennoch gibt es auch heute noch einen verhältnismäßig großen Anteil Analphabeten in der chinesischen Bevölkerung.
Die chinesische Kalligraphie kennt verschieden deutlich geschriebene Formen der
Schriftzeichen. Während die Zeichen in Regelschrift Strich für Strich geschrieben oft
aus 20 bis 60 einzelnen Strichen bestehen, können sie in den kursiven Formen der xing-
oder
caoshu
so schnell geschrieben werden, daß es schon vor vielen Jahrhunderten
möglich war, Gerichtsverhandlungen und ähnliches stenographisch aufzuzeichnen.